-Ihre Meinung ist un-wichtig
`Langweilig `- hatte Bruno vor Tagen zur roten Ulla gesagt, als sie ihm ein Buch mit Bildern gezeigt hatte-vor denen er sich fürchtete.
Nun hatte der stoppelfeldhaarige Bruno geklingelt und wollte mit seinem Skateboard in Ullas Zimmer ein paar Show-Runden drehen. Mit hochgerecktem Kinn stellte sich ihm die Rothaarige in den Weg. Das Pflaster am Hals musste er sehen. `Schlangenbiss`, sagte sie, `sie kam aus dem Buch`. Er:`Glaub ich nicht!`
Und dann klappt Ulla eine Welt auf, in die es treppab hineingeht, und beide schwingen, schaukeln, fliegen rutschen, purzeln, rudern, klettern durch gefahrenvolle Verführungen, an deren Ende Bruno ein Pflaster braucht.
`Realität wird von Einbildungskraft geformt, Realität ist eine imaginäre Grösse, die verwandelt werden kann, wie Windmühlen in Ritter und Dorfschöne in edle Damen`, sagt Javier Marias und fährt fort, `Realismus in der Literatur ist völlig nutzlos, denn Fiktion ist stärker als jede Realität`. Und der Schwede Lennart Helsing, ebenfalls Schriftsteller, sieht in der Literatur für Kinder, dass mit ihr das Kind lernt, Sprache zu meistern, Zeit und Raum wahrzunehmen und in Beziehung zu bringen, soziale Orientierungen auszupendeln und den wirklichen Geist des Lebens zu aktivieren.
Solche Botschaften verweisen auf die primären und fundierenden Begegnungen mit Literatur; vor allem sind sie für die sensible Zeit gedacht, in der Kinder Bücherlesen in die Dynamik ihrer Entwicklung einfügen könnten.
Dass Leben aus Büchern aufgenommen werden kann, ist in einer Zeit der audiovisuellen Erdrückung – Michael Krüger nennt es `Verblödung`- eine Art von Überlebenskampf und wendet sich vor allem an Lehrerinnen. Wichtigtuer mit dem kleinen Unterschied glotzen schon während des Studiums auf die Schirmchen der vier Giganten der Informationszubereitung und – führung und werden in diesem Sprudelbad der Blasen dusselig gespült.
In “Verloren unter Freunden” beschreibt Sherry Turkle, Soziologin am Massachusetts Institute of Technology, die Einsamkeit der Jugendlichen und deren Angst vor Nähe. Hinter einem Schutzwall von SMS und Instant –Messenger entziehen sie sich den face-to-face Gesprächen . Facebook frisst Zeit, denn die Pflanze muss gefüttert werden, raubt Selbstständigkeit und behindert persönliche Begegnungen.
Als im Jahr 2000 erstmals die Welt-Liga-Tabelle PISA von der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, sogenannte Leseleistungen 15-Jähriger in Rangskalen veröffentlichte,waren in nicht wenigen Ländern Bestürzung und Verwirrung groß,hektische Schuldzuweisungen und ebenso überfallartige Initiativen angesagt.
Die gesamte Maschinerie, die PISA in Gang gesetzt hat, hat für das, was Lennart Helsing für das Lesen mit der Aktivierung des wirklichen Geist des Lebens beschwört, nichts gebracht.
Gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf die Schlüsselfunktion: Lesen, die gab es, eine schlüssige, fundamentale Antwort auf die Frage: Wozu lesen? wurde vor lauter Fixierung auf die alle Konzentration aufbrauchenden “Lesekompetenz-Tests “ nicht ins Auge gefasst. Die Tests verhakten sich in der Schulwirklichkeit – und so wurde nur noch auf die nächste Batterie hin gearbeitet? Die von Experten der Ökonomie übermittelten Standards drückten einer Diskussion, in der es um Lese-Neugier, Lese-Freude, Lesen-Wollen ,ja, um die intimen Seiten des Lesens hätte gehen müssen, die Luft ab. Die Ergebnisse der Nachfolgeuntersuchungen hatten kaum Auswirkungen auf Positionen in der Tabelle. Es blieb bei roten Laternen, die Spitzenreiter tauschten mal die Plätze, und im Mittelfeld tummelten sich die gleichen Nachbarn, sodass Bildungspolitiker das Liedchen vom Aufstieg singen konnten. Steht es nach 12 Jahren PISA besser um die Hinwendung von Kindern und Jugendlichen zum Lesen? Man schaue sich die Tests für die Grundschule an: Texte, Fragen, Auswahlantworten sind auf ihre statistische Erfass- und Verwertbarkeit hingezwirbelt. PISA hat nicht wenige verrückt gemacht; diejenigen, die das Lesen auf zurechtgeschnittene Texte reduzierten, überwiegend schlichte Fragen stellten, zu denen Auswahlantworten anzukreuzen waren; diejenigen, die glaubten, auf den Testeritis-ICE aufspringen zu müssen, legten Bücher zur Seite . Die Testergebnisse wurden eingerankt, die wahren Leser wanderten aus oder liegen seitdem im Entzugskoma. PISA hat nicht wenigen eine Legitimation verschafft, dass während des Studiums zum Lehrberuf es nicht vonnöten ist, ein Kinderbuch zu lesen ; mit der Häppchenliteratur aus Lesebüchern ist die Auslastung erreicht. Das kommt dann einer emotionalen Vernichtung gleich, einer inneren Bewegung, die Leselust genannt sein möchte. Von einer Entwicklung, die die Attraktivität des Lesens, die einmalige Intimität, die befreiende Wirkung und die Dynamik dieser Kulturerfahrung als Zugpferde einspannt, ist nicht einmal ansatzweise etwas zu entdecken. Ob man den durch PISA ausgelösten Kontrollphobien Einhalt gebieten und wesentlich Einfaches in die Verantwortung rücken kann? Der PISA-Oberhäuptling, Prof. Baumert, hat doch selbst in einem ZEIT- Interview, ein wenig enttäuscht, ein wenig zornig, den PISA –Aufwand auf das Notwendige reduziert:” Mehr Schlaf, weniger fernsehen, mehr lesen”. Zack!
PISA hat abhängig gemacht, schafft Bequemlichkeit, kappt die demütige Geste der Rückbeugung auf sich selbst und zerbröselt so den tiefen Sinn von Lesen. Kaspar Spinner sieht die Bewegungen, um die es beim Lesen geht, imaginative Verstrickung, Selbstreflexion und Rätselhaftigkeit, wodurch eine besondere Einprägungsstärke erreicht wird, jenseits des PISA- Bewusstseins.
Bücher lesen – dazu braucht es informierte und überzeugende Lehrpersonen, die Kinder und Jugendliche in die fiktionale Welt, die letztendlich die reale Welt dominiert, mitnehmen. Jerome Saul Bruner hat solch eine innere Qualität Begeisterungsfähigkeit genannt. Kann sowas mit den Test-Akzenten von PISA erreicht werden oder rennt das mit Karacho am Kern des Lesens vorbei? Kann es sein, dass das abnehmende Lese-Interesse der Kinder und Jugendlichen auch mit dem versiegenden Schub der Professionellen zu tun hat. Wer hat die Befeuerung durch ein klappriges Notstromaggregat ersetzt? Wie würde eine Statistik aussehen, wenn zur Lesequantität und –qualität von Lehrpersonen gefragt werden würde: Was haben Sie in den letzten 36 Monaten an Büchern gelesen, die in der Gruppe der 6 – bis 12-Jährigen ihren Platz finden könnten?