Angst hat Garman vorm ersten Schultag, denn er kann weder balancieren, noch rückwärts Rhabarber schreiben und seine Zähne sitzen felsenfest, während bei Hanne und Johanne gefährliche Zahnlücken Eindruck machen. Die Verdauungsgeschichten der alten Tanten langweilen, aber Angst haben Borghilde, Ruth und Augusta auch vor dem langen Winter und dem Sterben. Gestorben ist schon der kleine Spatz, den Garman in der Hecke findet und zu den Regenwürmern in die Erde legt. Angst vor Vergänglichkeit und Vergesslichkeit, vor dem Abschied und einem Anfang, fotorealistisch, mit Retro-Elementen und floralen Dessins kombiniert Stian Hole die Melancholie des Zweifels. Für „Garmans Sommer“ erhielt der Norweger 2010 den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Für manche Menschen ist der Lichtspalt zwischen den zwei Ewigkeiten der Dunkelheit sehr schmal und das Leben sehr kurz geworden. Zu kurz für Anna mit den Sommersprossen, deren geliebte Mutter aus dem Leben geholt wurde; zu kurz für Annas Vater, der seine junge Frau verloren hat. Anna und ihren Vater hat es aus der Welt gerissen und die beiden tauchen die Stunden bis zum Begräbnis ab in eine surreale Anderswelt, „Annas Himmel“.
Unruhe liegt in der Luft. Unruhe vor dem Grauen. Annas Haare stehen zu Berge. Bis zum Abschied von ihrer Geliebten müssen Anna und ihr Vater sich beeilen, die Kirchenglocken läuten und Mama hebt mit einem der sieben fliegenden Elefanten schon ab. Anna hängt kopfüber in der Schaukel, daneben im schwarzen Anzug der Vater, Rosenstrauß in der Hand, Blütenköpfe nach unten. Für beide regnet es Nägel. Der liebe Gott, der soviel verschieben und verdrehen kann, wird Mama nicht zum Haare flechten zurückkommen lassen. Mama wird wohl Unkraut jäten oder jemanden besuchen oder Gottes Bibliothek aufräumen. Ob Gott überhaupt liest?
Tochter und Vater fliegen und schwimmen mit Schmetterlingen, Vögeln, Löwenzahnschirmchen, Blättern, Büchern, Elefanten, Seepferdchen, Quallen, Hasen, Tintenfischen, Libellen, Hummeln, Fröschen in paradiesischen Farben, bis dorthin, wo der Himmel unter Wasser steht und die Unsichtbaren leben.

Und überall schweben diese lippenähnlichen Blätter mit? Endlich stehe ich mit Anna im Zimmer der Mutter und sehe die Vase mit den Rosen und den Blütenblättern auf dem Boden, daneben die Haarbürste, zwei verschiedene Schuhe, die gerissene Perlenkette, den angebissenen Apfel auf der Kommode, zwei Söckchen und zwei frisch ausgepackte Kleider auf Bügeln. In der Tür steht Anna, linke Hand auf der Klinke, in der rechten Hand ein Gerstenhalm, auf den Erdbeeren aufgezogen sind. Er kam wohl unerwartet, urplötzlich, mitten im Leben. Die Blütenblätter der Rosen fallen auf den Boden und dann? Dann begleiten sie Vater und Tochter durch das Buch bis zur letzten Seite, wo der Vater kopfüber schaukelt und Trost von Anna spürt. Jetzt können Erdbeeren vom Himmel fallen.
Vögel als fliegende Blumen, ein Pfau mit 110 Augen im Rad, ein Vater mit Flügeln, und Anna, aus deren langen Haaren wunderliches Getier krabbelt, springt, schwimmt. Fotorealistisch mit surrealen Anspielungen, farbenprächtig. Bilder und Text von hinreißender Vitalität, bezaubernden Verrätselungen und tröstenden Versprechungen.
Vergegenwärtige ich mir dann ein Interview in der „Zeit“ vom 20. März 2014, wo in unsäglicher Beschränktheit die Initiativen eines schwedischen Autors, der ein Regelwerk (!) zum besseren Leseverständnis mit praktischen Hinweisen und Anleitungen wie Lehrer ihren (!!) Leseunterricht gestalten können geschrieben hat, empfohlen werden, wird mir zum Erbrechen übel. Die fünf aufeinander aufbauenden (!!) Strategien – PISA grinst wieder mal um die Ecke – zerkrümeln jedem Lesewilligen und Leseneugierigen Spontaneität, Phantasie und Hingabe.
„Annas Himmel“ würde einstürzen.